Brasilien, mein brasilianisches Brasilien,
Meine geliebte Mulattin, ich werde dich in diesen Versen besingen.
Oh, deine Samba, deine sinnlichen Tänze,
Das Brasilien, das ich liebe, Land unserer Väter,
Brasilien mein, mein, mein.
So beginnt der 1939 geschriebene Samba-Klassiker Aquarela do Brasil von Ary Barroso, dessen Melodie auch in Europa viele wiedererkennen werden. Brasilien hat eine offizielle Nationalhymne, aber Hymnen an das Land und seine Bevölkerung gibt es viele. Musik ist allgegenwärtig in Brasilien, der Ort spielt dabei keine Rolle. Aus den Lautsprechern der Strandbars tönt sie, im Bus oder Taxi hört man die neuesten Hits, Autos werden zu fahrenden Beschallungsanlagen.
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Aber eigentlich brauchen die Brasilianer keine Technik zum Musizieren; genauso selbstverständlich, wie sie aus einem „Stofffetzen eine bunte Fahne zaubern, aus irgendeinem Gedanken eine Fete werden lassen“, so entsteht „aus irgendeinem Holzstück ein Musikinstrument“, so Gilberto Gil, der große Star aus Bahia. Selbst wer ganz ohne musikalische Ausbildung ist, macht oft ausgezeichnete Musik. Dabei ist die menschliche Stimme das wichtigste Instrument. Wenn es den Titel des musikalischsten Volkes der Erde gäbe, die Brasilianer wären sichere Anwärter.
Das Universum brasilianischer Musik in ein paar Zeilen zu beschreiben, ist ein unmögliches Unterfangen. Zu groß ist die Vielzahl an Rhythmen und Stilen, Komponisten und Interpreten. Brasilien hat so viele Musikstile wie Deutschland Biersorten, besagt ein Sprichwort. Dabei ist alles in einem ständigen Wandel begriffen. Altes wird aufgegriffen, Einflüsse aus verschiedenen Regionen oder anderen Ländern integriert, und am Ende entsteht wieder etwas Neues, sehr Brasilianisches. Um zu verstehen, was Brasiliens Musik ausmacht, hilft nur eins: dabei sein und die Rhythmen selbst erfahren. Bei einem Forró-Tanzfest im Nordosten, in der von Trommelrhythmen vibrierenden Altstadt Salvadors, bei der Probe einer Sambaschule in Rio de Janeiro …
Ursprünge und Überblick
Die „klassische Musik“, oder Música Erudita – wörtlich übersetzt „gelehrte Musik“ – spielt eine relativ untergeordnete Rolle in Brasilien. Zwar gab es seit Ende des 18. Jahrhunderts immer wieder herausragende Künstler, die wenigsten erlangten jedoch nationale oder gar internationale Anerkennung. Einer der ersten brasilianischen Opernkomponisten war Antonio Carlos Gomes (1836–96). Vielen der klassischen Komponisten aus Brasilien ist gemein, dass sie einen großen Teil ihrer musikalischen Ausbildung in Europa erhielten und meist europäischer Abstammung waren.
Eine Ausnahme machte Heitor Villa-Lobos (1887–1959) aus Rio de Janeiro, vielleicht der bekannteste brasilianische Komponist überhaupt. Begegnungen mit Darius Milhaud und Arthur Rubinstein Anfang des 20. Jahrhunderts verhalfen ihm zum internationalen Durchbruch. Seine Werke werden heute in ganz Europa und den USA gespielt. Wie schwierig es ist, brasilianische Kunstmusik klar von populärer Musik abzugrenzen, dafür ist Villa-Lobos das beste Beispiel. Er war seit seiner Jugend von brasilianischer Volksmusik begeistert, studierte sie intensiv und ließ Elemente in zahlreiche seiner 3000 Kompositionen einfließen. Vor allem der Samba-Vorläufer Choro (siehe unten) fand bei ihm und zahlreichen anderen brasilianischen Komponisten immer wieder Eingang in klassische Kompositionen. Dies ist eine Besonderheit der brasilianischen Kunstmusik: Komponisten und Musiker überschreiten regelmäßig die Grenzen zur populären Musik und umgekehrt.
Gute Beispiele für dieses Phänomen sind auch die Vertreter der experimentellen Instrumentalmusik wie Hermeto Pascoal, Egberto Gismonti oder Naná Vasconcelos. Sie vermischen in ihrer Musik verschiedene Rhythmen und Stile und funktionieren Instrumente einfach um. Hermeto Pascoal zum Beispiel nennt seine Musik „universal“, lässt sich von den Klängen der Natur inspirieren und benutzt die skurrilsten Dinge als Klangkörper.
Die populäre Musik ist in mehrerer Hinsicht extrem vielfältig. Zum einen die Verschiedenheit der Rhythmen und Stile, die ihren Ursprung im ethnischen Cocktail der Bevölkerung hat. Dann die regionale Vielfalt der Musik. So gut wie jedem ist der in Rio de Janeiro entstandene Samba ein Begriff, hinzu kommen ungezählte Stile und Tänze aus dem Norden, Nordosten, dem Hinterland (Música Sertaneja) oder dem Süden (Música Gaúcha). Nicht zuletzt entsteht diese Vielfältigkeit der Musik durch eine sehr hohe Anzahl begabter Musiker, von denen nur ein Bruchteil im Ausland überhaupt bekannt ist.
Die Música Popular Brasileira, kurz MPB, wird oft als Sammelbegriff verwendet für fast alles, was nicht zur Música Erudita gehört. Andere definieren MPB als „Generation Post-Bossa-Nova“ und gliedern einige Stile aus (Rock, Axé, Pagode und regionale Musik). Man kann den Begriff am ehesten mit Brasilianischer Pop-Musik übersetzen, wobei es deutliche Unterschiede zu dem gibt, was in Europa unter „Pop“ verstanden wird. Zum einen identifiziert sich in Brasilien nicht nur die Jugend mit der MPB, sondern sie ist Kultur der ganzen Bevölkerung. Zum anderen hebt sich die MPB durch eine außergewöhnlich hohe Qualität hervor – sowohl der Musik als auch der Texte. Letztere sind mindestens gleichberechtigt mit der Musik. Es ist beeindruckend zu sehen, wie Brasilianer die Songs von der ersten bis zur letzten Zeile mitsingen können. Die Autoren der Liedtexte werden oft genauso verehrt wie Komponisten und Interpreten. Wenn Brasilianer erfahren, dass im deutschsprachigen Raum die meisten Musiktexte auf Englisch gesungen (und oft kaum verstanden) werden, können sie nur den Kopf schütteln.
Choro, Samba und Pagode
„Quem não gosta de samba bom sujeito não é
É ruim da cabeça ou doente do pé“ –
(„Wer den Samba nicht mag, ist kein guter Mensch,
der hat entweder etwas am Kopf oder er ist fußkrank“)
Dies singt Dorival Caymmi in „Samba da minha terra“. Ganz sicher würden ihm die Cariocas, wahrscheinlich sogar die große Mehrheit aller Brasilianer zustimmen. Denn bis heute ist der Samba zentraler Bestandteil der brasilianischen Musik, Freudenfest und Trostspender zugleich. Der in Salvador geborene Dorival Caymmi (1914–2008) suchte mit 24 Jahren in Rio de Janeiro sein Glück als Musiker und wurde ab den 1930er-Jahren zu einem der bedeutendsten Komponisten und Sänger des Samba. Neben dem 1957 auf dem Album Eu vou p’ra Maracangalha erschienenen „Samba da minha terra“ schuf er noch viele weitere Klassiker, in denen er oft auch seine Heimat Bahia und das schwere Leben der Schwarzen und der Fischer thematisiert. Viele Lieder aus der Feder von Dorival Caymmi gehören zum Standardrepertoire heutiger Samba-Musiker und sind in den Straßen und Gassen Rios allgegenwärtig.
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Doch der Reihe nach: Vor dem Samba stand der Choro, ursprünglich eine Karnevalsmusik wie der Samba, jedoch wesentlich ruhiger. Der Musikstil wurzelt in europäischen Klängen wie Polka, Walzer oder Mazurka. Das Instrumentalensemble des Choro bestand zunächst aus Flöte als Soloinstrument, Gitarre, und einem Cavaquinho (Ukulele, eine kleine Gitarre), hat sich aber im Laufe der Jahrzehnte verändert. Einflussreichster Komponist war der aus Rio de Janeiro stammende Alfredo da Rocha Viana Filho (1898–1973), genannt Pixinguinha. Der Choro hatte bis zu den 1920er-Jahren seinen Höhepunkt, wird aber bis heute quer durchs Land immer noch gespielt und gilt sogar als Hauptinstrumentalmusik Brasiliens. Dazu trug vor allem der berühmte „Prinz des Samba“ Paulinho da Viola bei.
Der Samba entstand vermutlich zwischen 1910 und 1920 in den Vorstädten von Rio de Janeiro, wo der Choro und der afrobrasilianische Musikstil Batuques verbreitet waren. Eine andere, durchaus plausible Theorie verortet die Entstehung des Samba in Bahia, die Musik sei dann etwa zur selben Zeit von arbeitsuchenden Baianos nach Rio mitgebracht worden. Die beiden Stile jedenfalls, Choro und Batuques, verbanden sich zu etwas Neuem. Als erster Samba gilt das Stück „Pelo Telefone“ (1918) des Gitarristen Donga. Die erste Sambaschule mit Namen Deixa falar („Lass sie reden“) wurde 1928 gegründet. Derer gibt es heute viele, die Proben sind häufig öffentlich und können besucht werden.
Es ist heute falsch, von dem einen Samba zu reden, denn zu viele verschiedene Stile haben sich im Laufe der Zeit herausgebildet. Der Samba do Enredo zum Beispiel ist weltweit berühmt als die Musik des Karnevals von Rio. Der ganze Körper wird vom wuchtigen Rhythmus der Trommeln erfasst. Die Liedform des Sambas ist der Samba-Canção; ein Beispiel ist das eingangs zitierte Lied Aquarela do Brasil von Ary Barroso. Die extravagante Sängerin Carmen Miranda (1909–55) hat Barrosos Sambas in Hollywood-Filmen gesungen und damit weltweit bekannt gemacht. Ein „Samba mit Unterbrechung“ und meist humoristischer Note ist der Samba de Breque (von engl. „Break“ abgeleitet).
Auch das beliebte Pagode ist eine Weiterentwicklung des Samba, mit stärker improvisiertem Charakter. Beth Carvalho, Jorge Aragão und Zeca Pagodinho waren hier die Pioniere. Pagode wurde aber im Laufe der Zeit zu einem Überbegriff für einen kommerzielleren und Rock-/Pop-orientierteren Samba. Bekannt ist diese Richtung auch als Pagode Romântico, zu deren Interpreten Alexandre Pires, Fundo de Quintal, Raça Negra, Exaltasamba oder Sorriso Maroto zählen.
Bossa Nova
Samba plus Cool Jazz gleich Bossa Nova; das wäre die Kurzformel der Entstehung. Bossa Nova, die „Neue Welle“, entstand zu einer Zeit (späte 1950er-Jahre), als der Wind einer Aufbruchsstimmung durch das Land zog. Präsident Juscelino Kubitschek wurde demokratisch gewählt, er verwirklichte den Traum einer modernen Hauptstadt im Landesinneren, die Industrie modernisierte sich. Kurzum, überall war Optimismus zu spüren. In diesem Geiste entstand der Bossa Nova in der Intellektuellen-Szene Rio de Janeiros. Im neuen Stil vermischten sich Samba-Elemente mit Jazz bis hin zu impressionistischen Einflüssen.
Der große Meister und Erfinder des neuen Rhythmus war Antonio Carlos „Tom“ Jobim (1927–94), der bedeutendste Vertreter der brasilianischen Musik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es besteht allgemeine Übereinstimmung hinsichtlich seiner musikalischen Genialität und seiner Perfektion als Pianist, Komponist, Dirigent, Sänger und Arrangeur. Unzählige seiner Kompositionen prägten und prägen die brasilianische Musik bis heute. Viele seiner Werke wurden im Laufe der Jahre von internationalen Künstlern gespielt oder gesungen, darunter Dizzy Gillespie, Ella Fitzgerald, Count Basie, Oscar Peterson, Sarah Vaughan oder Frank Sinatra. Tom Jobim war der führende Kopf des Bossa Nova, der mit kongenialen Partnern wie vor allem Vinicius de Moraes und João Gilberto die brasilianische Musik der Weltöffentlichkeit erstmals näherbrachte.
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Als Durchbruch des Bossa Nova wird das von Tom Jobim geschriebene Lied Chega de Saudade („Schluss mit Wehmut“) angesehen, das 1958 zunächst auf einem Album von Elizeth Cardoso erschien. Der größte Erfolg kam jedoch erst ein paar Monate später, als João Gilberto (1931–2019) den Song neu einspielte. Mit seinem sanften Gesangs- und Gitarrenstil revolutionierte João Gilberto die Musik in Brasilien. Charakteristisch war der beinahe geflüsterte Gesang – völlig anders als die bis dahin aus dem Radio bekannten dröhnenden Stimmen – sowie das gefühlvolle Gitarrenspiel, das sich markant von der üblichen Samba-Rhythmik unterschied. Insbesondere dem Bossa Nova ist es zu verdanken, dass sich die akustische Gitarre als wichtigstes Instrument in der MPB etabliert hat.
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Aber nicht nur die Musik, auch die Texte waren neuartig, wofür hauptsächlich Vinicius de Moraes (1913–80) verantwortlich war. Der neun Mal verheiratete Lebemann und Poet zählte zu den schillerndsten Persönlichkeiten des Bossa Nova und gilt als ihr bedeutendster Textschreiber. Auf seinem Theaterstück basiert der zu Herzen gehende Film Orfeu Negro, der den Bossa Nova weltweit bekannt machte (Regie Marcel Camus, Filmmusik Tom Jobim und Luiz Bonfá). Der überwiegend mit Laiendarstellern gedrehte Streifen wurde 1959 mit einer Goldenen Palme in Cannes ausgezeichnet und gewann 1960 einen Oscar und Golden Globe als bester ausländischer beziehungsweise fremdsprachiger Film. Das berühmteste Lied daraus ist „Manhã de Carnaval“, der Morgen des Karnevals. Hier ein Ausschnitt aus dem Film, im Hintergrund sind stets die Sambatrommeln zu hören, die schon auf das abendliche Fest einstimmen:
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Obwohl sich der Titelsong in den folgenden Jahren zu einem regelrechten Jazz-Standard entwickelte und von vielen internationalen Künstlern interpretiert wurde, ist die beeindruckendste Version wohl nach wie vor die Originalfassung von Elizeth Cardoso.
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Das wohl wichtigste Konzert der Bossa-Nossa-Ära ging als „O Encontro“, das Treffen, in die Musikgeschichte ein. Im August 1962 versammelten sich Tom Jobim, Vinicius de Moraes und João Gilberto zu einem legendären Auftritt in Rios Nachtclub Au Bon Gourmet. Begleitet von der mehrstimmigen Gesangsgruppe Os Cariocas, dem Schlagzeuger Milton Banana und dem Bassisten Otávio Bailly wurden in jener Nacht einige der größten Bossa-Nova-Hits aller Zeiten teilweise uraufgeführt, darunter die späteren Welthits „Garota de Ipanema“, „Insensatez“, „Samba do Avião“, „Samba de uma Nota Só“, „Corcovado“ und „Só danço Samba“. Zum Glück existiert noch ein Mitschnitt des Konzerts: trotz Rauschens ein echtes musikhistorisches Dokument aus der Zeit des Höhepunkts des Bossa Nova.
Der bekannteste Bossa-Nova-Titel aller Zeiten ist das 1962 von Vinicius de Moraes und Tom Jobim geschriebene, und von Astrud Gilberto unverwechselbar dahingehauchte A Garota de Ipanema (The Girl from Ipanema), das seitdem ungezählte Male gecovert wurde. Inspiration für Moraes und Jobim war das hübsche Mädchen Heloísa Eneida Menezes Paes Pinto, das häufig an der Bar Veloso, einem damaligen Künstlertreffpunkt in Rio, vorbeispazierte. Die Bar trägt heute den Namen Garota de Ipanema. Es gibt viele Versionen dieses Musikklassikers, für mich die schönste, und geradezu der Inbegriff des Bossa Nova, ist diese frühe Aufnahme von 1963 mit João Gilberto und dem US-Saxophonisten Stan Getz, in der João Gilberto den ersten Teil des Liedes im Original auf Portugiesisch singt und Astrud Gilberto erst danach mit dem außerhalb Brasiliens bekannteren englischen Part einsetzt. Die in Salvador geborene Astrud Gilberto war bis 1964 mit João Gilberto verheiratet.
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Wenig später schwappte die Bossa-Nova-Welle auch in die USA, nach Europa und in die ganze Welt über. Legendär sind die Aufnahmen João Gilbertos mit dem US-amerikanischen Saxophonisten Stan Getz. In Europa wurde später vor allem Baden Powell berühmt. Während der Bossa Nova in Nordamerika 1964 seinen Höhepunkt erreichte, ebbte er in Brasilien bereits ab. Hier musste das Land die bittere Pille des Militärputsches schlucken. Eine neue Generation politisch engagierter Musiker wurde populär.
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Musik gegen die Repression
So paradox es klingt: Das autoritäre Militärregime wirkte wie ein Katalysator für die Geburt einer neuen Form politisch-kritischer Populärmusik, der modernen Música Popular Brasileira. Journalistische und künstlerische Meinungsfreiheit waren zunehmend eingeschränkt, Liedtexte wurden einer direkten Zensur unterzogen. Viele Musiker gingen sogar eine Zeit lang ins Exil. Glücklicherweise gelang es den Militärs jedoch nicht, durch Überwachung die Musikproduktion vollständig zu kontrollieren, im Gegenteil. Sie bewirkte sogar eine neue, kreative Musik, die subtil und zwischen den Zeilen ihren Protest äußerte.
In dieser Zeit begann der Aufstieg des Chico Buarque, bis heute eine der herausragenden Persönlichkeiten der MPB. Er begann als Sambista, entwickelte aber im Laufe der Jahrzehnte einen eigenen Stil, der sich neben schwermütigen Melodien vor allem durch anspruchsvolle lyrische Texte auszeichnet.
Zur gleichen Generation gehörte Elis Regina (1945–82) aus Porto Alegre, für viele die beste MPB-Sängerin aller Zeiten. Sie wurde bekannt für romantischen Rock, Boleros und Sambas. Meilenstein war 1974 das Album „Elis & Tom“ mit Tom Jobim, eine legendäre Zusammenarbeit in der brasilianischen Musikgeschichte.
Ein Genie als Songschreiber und Sänger ist auch Milton Nascimento, der als prominenter Sprecher der schwarzen Brasilianer bekannt geworden ist.
Weitere bedeutende Persönlichkeiten der MPB sind unter anderem Marisa Monte, Ivan Lins, Adriana Calcanhoto, Lenine, Cássia Eller, Jorge Vercilo, Vanessa da Mata und Djavan.
Der Liedermacher Djavan
Es ist erstaunlich, wie viele Brasilianer die romantischen Songs des Sängers Djavan von der ersten bis zur letzten Silbe mitsingen können. Seit seinem Debüt-Album von 1976 A voz e o violão („Die Stimme und die Gitarre“) zählt der Sänger aus Alagoas zu den großen Musikstars des Landes. Mit seiner gefühlvollen Stimme, den anspruchsvoll poetischen Texten sowie dem unnachahmlichen Gespür für harmonische Melodien und außergewöhnliche Rhythmik begeistert der farbige Interpret bereits mehrere Generationen von Musikliebhabern. Die Musik besteht hauptsächlich aus synkopierten Samba-Stücken sowie Balladen, darüber hinaus lässt sich der Künstler gerne von anderen Stilen inspirieren wie Reggae, afrikanischen und nordestinischen Rhythmen oder Jazz. Besonders in den 1980er-Jahren arbeitete Djavan mit internationalen Pop- und Jazzmusikern zusammen, seine Lieder wurden unter anderem von Al Jarreau und Manhattan Transfer interpretiert.
Es gibt viele Strömungen in der Musiklandschaft Brasiliens, aber mit Djavan scheinen die Brasilianer eine Art gemeinsamen Nenner gefunden zu haben, seine Musik ist so etwas wie ein verbindendes Element brasilianischer Kultur. Keine Bar, in der nicht die ungezählten Hits des Djavan von einem Gitarristen oder einer CD gespielt werden. Auch mehr als 40 Jahre nach seinem Karrierebeginn füllt der immer noch jugendlich wirkende Interpret (Jahrgang 1949) alle Hallen und Stadien des Landes. Angesichts der immensen Kreativität und Ausstrahlungskraft ist es nur verwunderlich, wie solch ein Ausnahmekünstler über all die Jahre der europäischen Öffentlichkeit vorenthalten werden konnte.
Erster großer Hit war das Lied Flor de Lis (1976), ein sentimentaler Samba, der zum brasilianischen Klassiker wurde. Unzählige weitere Hits folgten, darunter Eu te devoro, Oceano oder Açaí. Eine Auswahl der größten Erfolge bietet die exzellente Live-Doppel-CD Djavan ao vivo, ein geeignetes Werk, um die Musik von Djavan kennen zu lernen, und ein gutes Mitbringsel.
Tropicalismo
Auch der gegen Ende der 1960er-Jahre entstandene Tropicalismo – obwohl seinem Selbstverständnis nach zunächst gar nicht politisch gefärbt – war den Militärs ein Dorn im Auge. Caetano Veloso und Gilberto Gil sind die berühmtesten Vertreter, beide mussten kurz ins Gefängnis und zwei Jahre ins Exil nach London gehen. Das Quartett vervollständigten Gal Costa und Caetanos Schwester Maria Bethânia.
Charakteristisch für die von Salvador in Bahia ausgehende Bewegung war das Zusammenführen internationaler Einflüsse (bis hin zu Jimi Hendrix) mit den Musikrichtungen Brasiliens, eine nicht ganz unumstrittene Wendung. Zeitweise wurden Caetano und Gil sogar ausgepfiffen. Man betrachtete sie als unpatriotisch, weil sie sich von ausländischem Rock inspirieren ließen, E-Gitarren einsetzten etc. Heute gilt der Tropicalismo jedoch nicht zuletzt wegen seiner zwischen den Zeilen versteckten Regimekritik als Meilenstein brasilianischer Musikgeschichte. Alle vier genannten Künstler gehören nach wie vor zu den größten Stars des Landes und sind regelmäßig auf der Bühne oder im TV zu sehen. Gilberto Gil unternahm sogar einen Ausflug in die Politik und gehörte von 2003 bis 2008 der Lula-Regierung als Kulturminister an.
Música Nordestina
Mit Gilberto Gil wurde bereits die Musik des Nordostens und ihr pulsierendes Zentrum Salvador gestreift. Doch zunächst ist ein kleiner zeitlicher Sprung zurück notwendig, denn die Anfänge der Música Nordestina liegen viel früher: Durch den Akkordeonisten und Sänger Luiz Gonzaga (1912–89) aus Pernambuco wurden nordöstliche Musikstile wie Forró und Baião in den 1940er-Jahren landesweit bekannt. Einer seiner großen Hits war Asa branca (Weißer Flügel), eine weitere der am Anfang des Beitrags erwähnten Hymnen, die jeder Brasilianer mitsingen kann.
Forró ist eine mitreißende und gut tanzbare Musik, der man in ganz Brasilien begegnet. In jedem noch so kleinen Dorf gibt es am Wochenende eine Forró-Party. Nur Akkordeon, Triangel und Zabumba (Tragetrommel) sind im Prinzip notwendig, und natürlich ein Sänger. Die ursprüngliche Formation hat sich bis heute weiterentwickelt, neue Instrumente kamen hinzu, der Sound veränderte sich. Bekannte Bands sind unter anderem Falamansa, Rastapé, Aviões do Forró oder Circulado de Fulô.
Weitere Stile sind der bereits erwähnte Baião (ähnliche Besetzung), der Frevo, die Karnevalsmusik von Recife mit synkopisch-akzentuierten Rhythmen, und der Maracatu, der afrikanische Rhythmen mit portugiesischen Melodien verbindet (ebenfalls aus Pernambuco).
Viele Musiker wurden durch die nordestinische Folklore geprägt, Stars des Nordostens sind unter anderem Geraldo Azevedo, Raimundo Fagner, Elba Ramalho und Alceu Valença.
Musik aus Bahia
Der Bundesstaat Bahia ist eine musikalische Welt für sich. Die afrikanischen Einflüsse sind hier in jeder Hinsicht stark ausgeprägt, was besonders deutlich in der Musik zu spüren ist. Bei der Entstehung neuer Musikrichtungen spielt der Karneval eine herausragende Rolle. Er ist die Bühne, über die nahezu alle großen Künstler Bahias Bekanntheit erlangt haben. Zu den bekanntesten Interpreten gehören die Diven Ivete Sangalo, Daniela Mercury, Margareth Menezes und Claudia Leitte, der männliche Hauptstar ist Carlinhos Brown. Sie prägten einen Stil, der als Axé-Music bekannt wurde, ein energiegeladener Mix aus mitreißenden Samba- und Reggae-Rhythmen. Weitere bekannte Gruppen, die besonders zur Karnevalszeit in Erscheinung treten, sind Chiclete com Banana, Timbalada, Jammil, Banda Eva, Asa de Águia oder Psirico.
Afrobrasilianische Blocos wie Olodum, Ara Ketu, Ilê Aiyê („Haus der Schwarzen“) oder Filhos de Gandhy pflegen in Salvador die afrikanischen Traditionen. Olodum begründete Ende der 1980er den Stil des Samba-Reggae: eine ungemein groovende, zum Tanzen animierende Mischung aus Samba und Reggae. International wurde die Trommelgruppe bekannt durch Zusammenarbeiten mit Paul Simon und Michael Jackson.
In den 1980er-Jahren kam in Bahia Lambada in Mode. Der ursprünglich in Belém im Amazonasgebiet als Weiterentwicklung des Carimbó-Rhythmus entstandene Stil wurde mit Merengue-, Salsa- und Reggae-Elementen verfeinert. Die bahianische Fassung war poppiger und mit Synthesizer-Klängen angereichert, heute findet man sie fast nur noch in ihrem Ursprungsort Porto Seguro im Süden Bahias.
Andere Stile
Seit Mitte der 1960er-Jahre gibt es Gruppen, die mit Rock-Musik für Furore sorgen. Zur sog. Jovem Guarda gehörten zum Beispiel der international bekannte Künstler Jorge Ben Jor und Roberto Carlos (heute mit romantischen Balladen ein gefeierter Grandseigneur der großen Bühne). Bei den Anfängen des brasilianischen Rock war auch bereits Rita Lee mit den Mutantes dabei. Die 1970er-Jahre prägte vor allem Raúl Seixas aus Salvador, der Rock mit Elementen aus dem Nordosten mischte. In den 1980er- und 1990er-Jahren kamen neue Wellen aus São Paulo und der Hauptstadt Brasília. Bekannte Gruppen sind oder waren Kid Abelha, Jota Quest, Capital Inicial, Legião Urbana, Titãs, Barão Vermelho und Skank. Die Ikone Cazuza (1958–90) war dabei Grenzgänger zwischen Rock und MPB, ebenso wie Lulu Santos (bis heute).
In Rio de Janeiro und Salvador hat sich in punkto Rock recht wenig getan. Stattdessen gab es Künstler, die Funk, Soul und Disco-Musik als ihre Ausdrucksform entdeckten – zum Beispiel der unverwechselbare Tim Maia (1942–98), der Brasilien wahre Hymnen hinterlassen hat, und später dessen Neffe Ed Motta. Brasilianischer Funk Carioca – eine etwas dem Rap ähnelnde Musik aus den Armenvierteln Rios mit stark sexuell gefärbten Texten – hat mit dem anglo-amerikanischen Verständnis von Funk kaum etwas zu tun. Einen interessanten Weg schlug Chico Science mit der Band Nação Zumbi aus Recife ein. Sie kombinierten Maracatu-Rhythmen mit Hip-Hop und E-Gitarre, eine Richtung, die als Mangue Beat populär wurde. Chico Science starb 1997 bei einem Autounfall, aber die Band ging den erfolgreichen Weg weiter.
Auch in der Gegenwartsmusik hat Brasilien eine kreative Szene, die sich international sehen lassen kann. Als Música Eletrônica (elektronische Musik) wird alles bezeichnet, was durch moderne Einflüsse wie Hip-Hop, Drum‘n Bass, Breakbeat und anderes geprägt ist. Diese Musikrichtung ist besonders bei Jugendlichen der Großstädte äußerst populär. Ein hörenswerter Vertreter ist Marcelo D2. Eine interessante Fusion aus Bossa Nova und modernen Elementen haben die Töchter zweier Musik-Legenden eingeschlagen und sind so selber zu Stars aufgestiegen: Bebel Gilberto, die Tochter von João Gilberto, und Maria Rita, die Tochter von Elis Regina. Sehr angesagt ist auch der ausdrucksstarke Seu Jorge, der schon als Filmschauspieler im Streifen Cidade de Deus (City of God) Berühmtheit erlangte. Er präsentiert eine einzigartige, energiegeladene Mischung aus Pop, Samba und Soul.
Auf dem berühmten Jazzfestival in Montreux sind regelmäßig brasilianische Künstler zu Gast, eine gute Gelegenheit einige Stars der MPB kennen zu lernen.